Dr. Heinz Schilling • Professor für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

|Feldforschung|



Erträge der Feldforschung. Empirie meint Erfahrungswissenschaft

Ereignisgenerierte Themen und ihre Akteure wahrnehmen, Recherchen organisieren, Ergebnisse darstellen. Das journalistische Modell einer Reportage unter den Bedingungen von Aktualität und Konkurrenz.
Kulturelle Veränderungen und gesellschaftliche Probleme wahrnehmen, ihre Relevanz bewerten, im Rahmen einer Feldforschung einer Fragestellung nachgehen und die aus dem Feld mitgebrachten Informationen sodann — immer und immer wieder kritisch — reflektieren, sie dokumentieren und an eine Öffentlichkeit vermitteln; nicht selten sind das zunächst "die Beforschten". Das wissenschaftliche Paradigma meiner Frankfurter Feldforschungsprojekte mit Studierenden.
Im Prinzip handelt es sich um das journalistische Modell, das sich jedoch den Luxus leisten kann, Zeit zu haben. Zeit zu haben, sich vier Semester vorzunehmen, um in die Tiefe und in die Breite eines Themas zu gehen. Das Ganze universitär organisierbar als Forschendes Lernen. Forschungsfeld ist auch Lernfeld.
Nichts vorher wissen. Mitgebrachte Theorien oder Verifizierungsaufträge machen oft blind. Beim Nosing around alle Sinne öffnen, Orte und Räume auf sich wirken und sich vom Feld überraschen lassen. Mit Menschen ins Gespräch kommen, Dokumente analysieren, qualitativ und quantitativ Informationen gewinnen können, sie interpretieren, sie in Beziehung zueinander setzen, im Forscherteam diskutieren diskutieren diskutieren. Auch die habituellen Dispositionen der Forschenden selbst. Und wissen: Was will man wissen — und warum (was sich gelegentlich erst nach der Feldphase klären läßt).
Und — von Anfang an — den Ertrag von Feldforschung nicht in Schubladen versenken, sondern zusammen ein Buch machen wollen.

Die nachfolgend ausgewählten 8 Bücher illustrieren 25 Jahre forschend-publizistischer Aktivität — zusammen mit Studierenden. Die Beispiele weisen auch auf unterschiedliche Strategien der Informationsgewinnung hin, wie sie das sozial- und kulturwissenschaftliche Methodenrepertoire kennt:

Detaillierte Informationen hier.



Menschen bleiben haften

Ich selbst bin begeisterter Interviewer. Neugier und Zugewandtsein gegenüber Interviewpartnern charakterisieren mein Verhalten während eines Gesprächs, das im Grunde genommen eine synthetische soziale Situation darstellt. Gerade die situative Fremdheit scheint das Geheimnis dieser Art von Kommunikation zu sein, in der Vertrauen und Verstehen Klima und Verlauf bestimmen.
Man geht auseinander, der Interviewte fragt: Und was fangen sie jetzt damit an? Und da gibt es einen erkenntnisorientierten Interpretationsvorgang (im Rahmen des Feldforschungsinteresses) und es gibt Erinnerungen an Menschen, die sich mir, dem Interviewer, als Persönlichkeiten eingeprägt haben.
In dem Projekt "Region" beispielsweise ging es darum, wie Region Heimat sein kann. Die Recherchen — zentral: 300 fragebogengestützte Intensivinterviews in zwei hessischen Landkreisen — teilten sich 22 Feldforscher.
In meiner Erinnerung an dieses Projekt gibt es nicht wenige eindrucksvolle Begegnungen aus der Feldphase. Menschen, die mir — ohne jeglichen theoretischen Bezug — sagten, was Heimat alles sein kann: Im Kern ein ganz inneres Gefühl, worin sich vieles verdichtet und aus dem heraus Menschen ihre Welt lesen.
In den Sinn kommt mir eine junge Frau: "Wenn ich hier nicht groß geworden wäre, fände ich Bad Soden-Salmünster ganz entsetzlich", sagt sie, und sehr bestimmt: "Doch wenn Frankfurter Freunde Gegend und Ort schlecht machen, dann verteidige ich das hier, aber ... das Kaff kritisieren, das darf nur ich selbst". Ihre Bewertung richtet sich also nicht nach der Sache, sondern nach dem Adressaten. Dem Ort und den ewig kontrollierenden Nachbarn steht die schöne Erinnerung an die eigene Kindheit in der Familie gegenüber in diesem sehr ambivalenten Heimatbild. Wenn sie später mal wegzieht — um Gotteswillen nicht nach Frankfurt, meint die angehende Juristin, "das ist viel zu nah, um richtig weg zu sein, und ich will ja auch nicht im Biedermeier von all diesen Bänkern landen."
Ich denke an den Finanzbeamten. Innerhalb seiner Laufbahn orientiert er sich an wechselnden Dienstorten und zieht oft um; Wohnorte werden funktional ausgesucht nach einer Checkliste, etwa: Gibt es hier einen Arzt, der noch Hausbesuche macht? "Wir haben uns zwischen Maintal und Bad Hersfeld jeden Bauplatz angesehen und uns dann für Schlüchtern entschieden", sagt der 51jährige, der nun Behördenchef geworden ist. Die Laufbahn, das Amt, erscheinen als Heimat; der Stallgeruch bindet. Und nun auch das Haus. Leben ist Umziehen, sagt der 17jährige Sohn; er kennt es nicht anders und für ihn ist Schlüchtern eh nur Durchgangsstation, nicht Heimat. Er wird hier nicht warm hier; seine Schulfreunde sind aus Sterbfritz und Steinau.
"Jossgrund grüßt den Rest der Welt", das wäre der Autoaufkleber der 15jährigen Schülerin, die ohne Ende ihren Heimatort kritisiert, und sich doch felsenfest zur lokalen Gemeinschaft bekennt. Das Unverwechselbare in Oberndorf, das sind die Menschen. Sie sagt: "Leute, die ich kenne, sind nicht austauschbar". Oder andersherum: Wenn Menschen nicht austauschbar sind, dann ist das Heimat. Hinterm Haus ein alter Traktor mit noch GN-Nummernschild. Sie gehört zum Öko-Milieu der Gegend, ist aktiv in Bürgerinitiativen gegen Wahnsinnsprojekte und nimmt selbstbewußt in Kauf, als eine mit anderer Meinung "hier als blöd abgestuft" zu werden. Dennoch ist sie just die Lokalpatriotin, die für Jossgrund den Rest der Welt grüßt.
Als Regionalpatriotin hingegen sehe ich Anke T. in Niederdorfelden. Die 30jährige Mutter von zwei Kindern ist fast ständig auf Achse: Hier wohnen, da arbeiten, dort einkaufen, und ja nicht die Freizeit nur zuhause verbringen. Statt der Landkreise im Rhein-Main-Gebiet hätte sie gern eine politisch verfaßte Region. Heimat? Das ist, sagt sie, ein Gefühl. Ein Gefühl gegenüber den Menschen und der Gegend so zwischen Frankfurt und der Wetterau. Und was macht die Heimat unverwechselbar? Es sei doch alles sehr verwechselbar am Ort, denn es gibt, erklärt sie mit Blick auf die Kinder, keine tolle Burg, keinen tollen Wald und so weiter, nichts Spektakuläres. Das aber, so Anke T., das sei "alles irgendwie sehr mit dem Herzen geguckt".
An viele Begegnungen erinnere ich mich, in denen es hauptsächlich oder hintergründig um Heimat ging. Etwa an ein Interview mit Diethard Wies in Streitberg. Für ihn war Heimat eine Bühne, die mit subversiver Ironie zu bespielen dem Pädagogen und Komödianten die Chance bot, eben Heimat mit Phantasie auch neu zu erfinden. Das Projekt Aufklärung in bester Tradition.
Mir kommen Schwester Maria vom Orden der Vincentinerinnen in den Sinn, völlig losgelöst vom Ort ihres Wirkens in einem Kindergarten — und die Zeilen des Angelus Silesius: Wir sind nur Gast auf Erden / und wandern ohne Ruh / mit mancherlei Beschwerden / der ewigen Heimat zu.
Die Kneipenrunde bei "Onkel Erich" am Brückelchen in Züntersbach kurz vor der Grenze zu Bayern. Großes Klagelied: "Die Polizei verfolgt uns drüben wegen unserer HU-Kennzeichen. Nachts um drei vor der Disco messen die das Reifenprofil nach. Wir sind Verfolgte. Aber wir sind und bleiben Hessen."
Vor mir taucht auf: Viktor Schütz, Spätaussiedler aus Rußland, nun in Birstein lebend in einem Zimmer. Er zeichnet mir eine Landkarte seines Lebens auf ein Blatt Papier: Verfolgt von Stalin, deportiert in Bergwerke hinterm Ural, dann jahrelang auf gepackten Koffern auf die Ausreise nach Deutschland wartend. Und immer ein Beutelchen mit Heimaterde, von den Vorfahren 1770 aus dem Vogelsberg an die Wolga mitgebracht. Und jetzt ist die Erde wieder da, wo sie einst herkam.
Der alte Mann geht zum Fenster, fragt: "Sehen Sie den Kirchturm dort? Das wird unsere letztes Ziel sein. Dort ist der Friedhof."

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